Sonntag, 28. Oktober 2012

Von den drei Verwandlungen

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(Auszüge aus „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche)

   DREI Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
    Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
    Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut beladen sein.
    Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde.

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    Alles dies Schwere nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kamele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.
    Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eigenen Wüste.
    Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: Feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen.
    Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? „Du sollst“ heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „ich will“.

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    „Aller Wert ward schon geschaffen, und aller geschaffene Wert – das bin ich. Wahrlich, es soll kein 'Ich will' mehr geben!“ Also spricht der Drache.
    Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Geiste? Was genügt nicht das lastbare Tier, das entsagt und ehrfürchtig ist?
    Neue Werte schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.

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    Als sein Heiligstes liebte er einst das „Du sollst“: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
    Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
    Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
    Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.

   Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele ward, und zum Löwen das Kamel, und der Löwe zuletzt zum Kinde.

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Dienstag, 23. Oktober 2012

Integrität + Politik


Um dieses Wort Integrität richtig zu verstehen, muss ich ein englisches Wörterbuch zu Rate ziehen, denn dieses gibt auch die Wurzel des Begriffs integer an, was sehr wichtig sein kann; in diesem Fall nämlich: in (nicht) und tangere (berühren), also unberührt. Ins Deutsche übersetzt komme ich dann auf Ausdrücke wie Ganzheit, Unversehrtheit, und im Duden finde ich noch das Wort Unbestechlichkeit.

Aber was ist Unbestechlichkeit? Es ist neben anderem auch der Mut, das zu sagen, was man selbst beobachtet hat. Jeder Mensch strebt nach dieser Integrität. Er möchte sich selbst sein, ein ganzer Mensch und unversehrt. Und Politiker sind doch auch Menschen, oder nicht? Nur stehen diese fast immer unter einem besonderen Druck.
Man kann ruhig sagen, sie werden in Bezug auf ihr besseres Wissen oft unterdrückt. Zum Beispiel von einer Wirtschaft, die ausschliesslich ihre eigenen ökonomischen Interessen vertritt. Dies ist so gang und gäbe, dass kaum jemand es zu bemerken scheint. Und wenn es dann darauf ankommt, in der Aussenpolitik eine klare Haltung einzunehmen, kommen haufenweise Einwände wie „wir dürfen die USA nicht vergrämen, das ist schlecht für die Wirtschaft;“ oder „die Chinesen könnten ihr Gesicht verlieren und dann ist es aus mit den guten Beziehungen“; oder „die Islamisten sind sehr empfindlich in Bezug auf ihre Religion; man darf sie nicht beleidigen, sonst gibt es Bombenanschläge“; oder „haltet euch zurück mit der Kritik an Israel; wir wollen doch nicht als Antisemiten dastehen“; und so weiter und so fort. Wohin, glauben Sie, führt uns diese Einstellung?

Wenn man ein Problem aus der Welt schaffen will, muss man es zuerst einmal erkennen. Nur jemand mit einer ausgeprägten Integrität ist fähig, zu sehen was da ist. Dazu gehört auch, dass man offen darüber sprechen darf. Ein ansehnlicher Teil der Politiker ist dazu nicht imstande, denn sie geben lieber diesem wahnsinnigen Druck der Wirtschaft und des nationalen Egoismus’ nach, als sich einmal die Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen, was da eigentlich abläuft. Sie sind fixiert auf kurzfristige Gewinne in Form von Reichtum und Macht. Und genau in dem Masse sind sie auch mit Blindheit geschlagen. Über die wirklichen Lösungen der sich häufenden internationalen Probleme wird meist nicht einmal gesprochen. Dafür werden alle möglichen Nebengeräusche heiss diskutiert.
 
Jedes beliebige gesunde Kind würde eine vernünftigere Aussenpolitik vorschlagen als die Führer der meisten Nationen unserer Erde dies tun.
Erinnern Sie sich noch an die Märchen-Parabel „Des Königs Kleider“? Die grossen, erwachsenen und „erfahrenen“ Leute sehen nur das, was ihnen eingehämmert worden ist. Einzig das Kind sieht, was da ist, nämlich nichts, keine Kleider, einen nackten König. - Nun, der Unterschied ist der: Ein gesundes Kind ist normalerweise noch unversehrt bezüglich Blindheit und deshalb integer.